Alfred Kubin

Alfred Kubins Tuschfederzeichnung „Chevalier d‘ Eon“ ist der „reifen“ Phase seines bekannten Frühwerks zuzuordnen, in der eine gewisse Abmilderung der verstörenden Bildmotive von Trieb-, Angst- und Zwangsvorstellungen feststellbar ist, die bei seinen Zeitgenossen um 1900 Aufsehen und Empörung hervorriefen. Dabei läßt sich nicht nur eine Verfeinerung seines anfänglich karikaturhaften, dann ungewöhnlich rohen, damals als ‚primitiv‘ und provozierend empfundenen Zeichenstils zu beobachten, sondern auch eine Konzentration auf wenige, groß gesehene Symbolfiguren. Meist befinden sie sich in einem diffus entgrenzten Raum, den Kubin mittels einer von ihm entwickelten Spritztechnik mit durch ein Sieb geriebener Tusche zu erzeugen wußte. Einen ersten Höhepunkt für diesen voll entwickelten Zeichenstil stellte die sogenannte >Weber< Mappe von 1903 dar, in der der Verleger Hans von Weber 15 ausgesuchte Blätter Kubins von 1901 bis 1903 in Lichtdrucken herausgab. Hier zeigen berühmte Blätter wie „Das Grausen“ oder „Des Menschen Schicksal“ eine ähnliche Fokussierung der Bildaussage auf eine einzige Figur. Auf der künstlerisch souveränen Stufe von Kubins Frühwerk, wie sie die zusätzlich mit weicherem Tuschpinsel gearbeiteten Blätter von 1903/05 darstellt, wird die Aussagekraft der Komposition nun ganz in die Erscheinungsweise der Figur integriert.

In „Chevalier d‘ Eon“ steht eine auf den ersten Blick männliche Figur mit langen schwarzen Haaren, vollständig in einen überweiten, bodenlangen weißlichen Umfang mit auffallender rüschengeschmückter Knopfleiste und Schleife besetzten Umhang vor einer Park- oder Gartenmauer. Außer dem Gesicht, mit mißtrauisch und müden Seitenblick zum Betrachter gewandt, ragt nur eine kleine, ebenso fein gezeichnete Hand aus dem Umhang heraus und hält eine dunkle Katze neben sich an der Leine. Die raffiniert unproportionierte Figur ist mittig zwischen zwei kleinen Blumenrondellen platziert, rechts ist ein ebenso artifiziell gezeichnetes Spalier vor der Wand zu sehen. Der Baum links hinter der mattweißen Mauer, für dessen kahle hängende Äste Kubin den weichen Tuschpinsel einsetzte und sie kunstvoll mit dem Schwung der Haare korrespondieren läßt, und der hohe, baumbekrönte Abbruch am rechten Bildrand verschieben die Darstellung vollends ins Phantastische.

Das Motiv des „Chevalier“ fügt sich zudem in die Dekadenz-Diskussion zu Anfang des 20. Jahrhunderts ein, die Kubin auch in einer Reihe von anderen Zeichnungen seines reifen Frühwerks, wie „Der Gekrönte“, „Der Schwächling“ oder „Der letzte König“ teilweise mit selbstbildnishaften Zügen thematisierte. Für Eckhard von Sydow in seiner umfangreichen Publikation Kultur der Dekadenz von 1921 jedenfalls ist Kubin der dekadente Künstler schlechthin. Während in vergleichbaren Werken etwa von Félicien Rops noch die Kraft der Empörung stecke, zeige Kubin die Verneinung: Kein anderer Zeichner habe ein „so intensives und konkretes Bewußtsein vom Negativen und Dekadenten ermöglicht und aufgenötigt“ wie eben Kubin.

Die eigenhändige Bildunterschrift von Kubin läßt sich nicht leicht entziffern, doch ihre Identifizierung als „Chevalier d‘ Eon“ macht die Darstellung des bemerkenswerten Werks nur umso verständlicher. Der Künstler hat sich hier offenkundig an der Figur des historischen Chevalier d‘ Eon (1728-1810) inspiriert, geboren in Burgund und im Dienst Louis XV als Diplomat, später als politischer Exilant in London. Seit den 1770er Jahren wurde sein Geschlecht, nicht eindeutig ob Mann oder Frau zu bestimmen, heftig diskutiert und in vielen, oft satirischen Druckgraphiken thematisiert. Die auffallendste von ihnen, eine Buchillustration „Mademoiselle de Beaumont or the Chevalier D‘ Eon“ von 1770 (British Museum, London), teilt die Figur in zwei Hälften, jeweils in eine weibliche Robe oder männlichen Rokkoko-Anzug gekleidet, auf der ‚weiblichen‘ Kopfhälfte thront dazu ein turmhoher Aufbau mit einer großen gebogenen Feder. Alfred Kubin, der bereits als junger Student eine Leseratte war und – wie er in seinen autobiographischen Äußerungen beschreibt und wie es auch seine hinterlassene Bibliothek in Zwickledt zeigt – ‚abseitige‘ Literatur und Bildermappen verschlungen hat, wird diese Illustration vermutlich gekannt haben.
Anklänge und Überformungen dieses Vorbilds scheinen in Kubins „Chevalier d‘ Eon“ nicht nur im Changieren zwischen Männlich und Weiblich anzuklingen, sondern etwa auch im großen gebogenen Schwanz der Katze, die an die auffallende Feder auf dem Kopfputz der „Mademoiselle de Beaumont“ erinnern.


Dr. Annegret Hoberg

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